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Rede des Oberbürgermeisters Tobias Schick zum Tag der Deutschen Einheit am 3. Oktober 2025

Festempfang im Staatstheater

Sehr geehrte Damen und Herren,


der 03. Oktober war in der DDR offensichtlich ein beliebter Tag zum Feiern. Das mag an der Nähe zum Republikgeburtstag gelegen haben, vor dem gern und aufwändig abgerechnet wurde, was meist zum Wohle des Volkes vollbracht worden war.
Zwei solcher Tage haben wir in Cottbus/Chóśebuz. Vor exakt 50 Jahren ist unsere Stadthalle nach fünfjähriger Bauzeit übergeben worden. Und heute vor 39 Jahren hat das Große Haus des damaligen Theaters der Stadt nach umfassender Sanierung wieder seinen Spielplan aufgenommen.
Danke, lieber Hasko Weber, dass wir heute hier sein dürfen, an diesem so wichtigen Feiertag, der der 03. Oktober seit nun 35 Jahren ist.
Der Tag im Jahr 1990 war ein Tag der Freude für viele, wenngleich die Euphorie des Umbruchs im Herbst 1989 und die Aufbruchstimmung nach dem Zusammenfallen der gemauerten Verhältnisse schon etwas verflogen war. Die Wählerinnen und Wähler hatten im März den Kurs Einheit gewählt, die D-Mark seit Juli ihre Faszination und auch ihre Macht ausgespielt. Einige nahmen sich das Leben. Aus Verzweiflung, vielleicht auch aus Angst vor der Zukunft oder weil es schwer zu ertragen war, etwas, an das sie geglaubt haben, scheitern zu sehen. Andere nahmen ihr Leben endlich in die eigene Hand. Begrüßten die Freiheit. Viele waren frohgemut in neuer Zeit. Mancher aber, der es nach 1945 besser machen wollte und doch vom Weg abkam, war frustriert. Andere hatten Furcht, wieder andere waren wehmütig gestimmt. Bekannt ist die Geschichte des Lausitzer Baggerfahrers und Liedermachers Gerhard Gundermann, der, am Abend des 02. Oktober von einem Konzert kommend, um Mitternacht anhält und unter Tränen ein letztes Mal die Nationalhymne der DDR im Radio hört.
Auferstanden aus Ruinen – für manche Stadtviertel, oft in den Innenstädten, galt dies Ende der 1980er Jahre nicht, während an den Stadträndern noch große Plattenbaugebiete hochgezogen wurden. Weite Teile der Wirtschaft hatten oder bekamen keine Chance auf dem Weltmarkt. Wenn heute VW, der Autozulieferer ZF, Bosch oder die Lufthansa tausende Stellen streichen, ist der Aufschrei groß. Im Osten, auch hier in der Lausitzer Textilindustrie oder im Lausitzer Bergbau, hieß das damals lapidar: Das sind notwendige Marktanpassungen. Ein Exodus setzte ein, ein Gang in den Westen, der Arbeit, der Ausbildung, den sicheren Verhältnissen hinterher. Heute könnte man sagen: Ein Gang zur Rettung des alten Westens. Es waren viele junge Frauen, deren Kinder eben nicht hier geboren werden und aufwachsen. Mit der Mauer bröckelten und brachen im Osten sicher geglaubte Lebensentwürfe. Die Panzer der Menschen gegen die Zumutungen der Diktatur des Parteivolkes waren zwar erprobt, aber verbeult; gegen all die Glücksritter, die dann kamen, wirkten sie wie eingerostete Requisiten.

Der 3. Oktober 1990 ist ohne den 9. November 1989 nicht denkbar. Die Tage des demokratischen Aufbruchs, wie sich auch eine der jungen Parteien, lieber Wolfgang Bialas, nannte. Die Tage der Befreiung von der Parteien-Diktatur der nationalen Front, und einer Diktatur des Volkes, mit der das Volk nichts anfangen konnte.

Die Tage aber auch, als erst die ostdeutsche Bürger- und Künstler-Avantgarde, später dann „das Volk“ die Demokratie sehr ernst und beim Wort nahm, wenn es sich denn einmal zur Beteiligung entschlossen hatte. Das zeigt sich im Drang, für Interessen lautstark einzutreten und eben auch auf die Straße zu gehen – bis heute. Der Autor Alexander Prinz hat es gerade als „Oststolz“ beschrieben und sagt: „Wir im Osten sind klarer in Haltung und Aussage.“

Wir sind das Volk, das von allen Seiten in Anspruch genommen. Und es verortet genau, wer Backhendl sagt und wer Broiler, wer von Medizinischen Versorgungszentren spricht und wer von der Poliklinik. Der Osten ist so ein Seismograph gesellschaftlicher Entwicklungen. Dem Volk aufs Maul zu schauen heißt nicht, ihm alles nachzuplappern. Aber zuhören sollte man schon, man wird nicht dümmer dadurch. Ob uns die Inhalte dazu immer gefallen, sei dahingestellt. Wichtig ist, dass Grundrechte wie die Freiheit des Wortes und der Versammlung geschützt und gewahrt bleiben.

Einigkeit und Recht und Freiheit: Weit mühsamer sind freilich die Verästelungen einer parlamentarischen Parteien-Demokratie. Diese ist nicht gering zu schätzen, macht aber Aufwand, raubt Nerven, kostet Zeit, erfordert Kompromisse und die Bereitschaft dazu. Was uns verloren gegangen scheint, ist der Aufbruchsgeist jener Monate, ist das unkonventionelle Herangehen, das befreiende Tun, das Raum und Chance ergreifende Machen. Heute findet man das beim ausgezeichneten Ehrenamt. Sonst aber: Nicht erst alle Bedenken ausbreiten, und alle rechtlichen Feinheiten ausjustieren, damit nur ja niemand klagt. Einfach machen – heute ist das ein Werbeslogan, vor 35 Jahren wirkte es befreiend und inspirierend.

Diesen Mut haben nach den Umbrüchen der frühen 1990er Jahre viele Menschen bewiesen. Teils notgedrungen, weil ihnen nichts anderes blieb. Weil ihnen ihr Betrieb genommen, ihr Job verschwunden, ihre Idee verkauft war. Mancher davon ist später neidvoll angeschaut worden: Warum hat der Erfolg und sogar Geld und ein anderer nicht. Viele konnten diesen Weg nicht gehen, landeten in Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, x-ten Umschulungen, Frührente. Unsere Gesprächspartner nachher hier auf der Bühne und im Anschluss an diesen Festakt werden erzählen, warum sie angepackt haben, Freiheiten gefordert und genutzt haben, mutig sind, ausdauernd und fleißig. Lassen Sie uns gemeinsam zuhören, lassen Sie uns darüber reden, wie es jetzt ist, und uns verständigen, wie es sein wird oder werden sollte.

Ich bin für vieles noch zu jung. Es gibt aber einen Moment, der mich als Kind und der wohl jedes Kind beeindrucken würde: wenn ein Erwachsener weint. Diesen Moment haben ich in jenem Spätherbst 1989 in meiner Familie erlebt. Als Kind spürt man wohl instinktiv, dass in diesem Moment etwas Großes, etwas Bewegendes und Prägendes geschehen sein muss. Ich bin für diesen Moment dankbar, weil er das Geschenk der fern geglaubten Freiheit zu dieser Zeit ganz gut zeigt.

Ich habe das große Glück, 35 meiner knapp 45 Lebensjahre mit Einigkeit und Recht und Freiheit gelebt haben zu können. Meiner Eltern- und Großeltern-Generation gilt der Dank, wie sie das Leben vor und nach 1989/90 hier im Osten gemeistert haben. Nichts ist ohne Makel und Fehler, die auch zum Schweigen führen. Die meisten aus diesen Generationen haben es dennoch geschafft, ihren Kindern, die gerade Teenager waren, Wege zu zeigen. Biografien müssen nicht entschuldigt, sondern erzählt werden. Und so ist der Feiertag ein guter Anlass, sich an die Euphorie und den Tatendrang, die sich mit der Einheit in Freiheit verbunden haben, zu erinnern und in unser heutiges Tun einzubinden. Umbruch soll nicht Einbruch, sondern soll Aufbruch sein.

Der 3. Oktober 1990 ist auch nicht ohne den 30. Oktober 1989 zu denken. Ein Tag, der zumindest in die Cottbuser Geschichte eingegangen ist. Hier am Staatstheater, dem damaligen Theater der Stadt, formierte sich die erste große Demonstration in Cottbus. Das war spät im Vergleich zu anderen Städten in der DDR, aber es war nicht zu spät. Eine Bodenplatte vor dem Haus erinnert an diesem Tag und an die Mutigen, die diese Demonstration in die Wege geleitet hatten. Ich weiß nicht, wer diese Platte heute bei seinen Besuchen hier wirklich wahrnimmt. Sie ist neben den Segmenten der Mauer auf dem Platz der Deutschen Einheit – ja, so einen haben wir an der Universitätsbibliothek – ein zweites wichtiges Zeugnis jener Tage. Ich darf aber auch an die Peter-Model-Straße erinnern, die einen der Mutigen aus der Umwelt- und Bürgerbewegung würdigt, den ersten, die etwas in Bewegung brachten. Wo heute diese Straße liegt, stand einst die Stasi-Zentrale des Bezirkes am Nordrand.

Heute ist es nun 35 Jahre her, dass formalstaatlich die deutsche Einheit vollzogen wurde. Die DDR trat dem Grundgesetz der BRD bei, so war es Volkes Wille. Wir wissen natürlich nicht erst seit heute, dass es bis zur tatsächlichen Einheit noch immer ein weiter Weg ist. Wir lernen, dass es eine Einheit in Ungleichheit ist. Die Vielfalt unterschiedlicher Lebensentwürfe, teils widersprüchlicher Erfahrungen sowie verschiedener Aus- und Ansichten ist jedoch kein Makel. Vielfalt ist wertvoll, weil sie die Sinne schärft und man in der Auseinandersetzung mit Anderem wächst. Das sollten wir uns nicht kleinreden lassen. Trotz aller Herausforderungen durch Krieg, Migration, Extremismus, Ärztemangel, Bürokratie, Wirtschaftsflaute, Autokratie und Klimawandel. All das bedrängt die innere Einheit, die wir doch brauchen, um die Krisen zu überwinden. Bei einem nüchternen Blick in die Welt geht es uns dennoch insgesamt gut.

Im fünften Jahr der Einheit war Cottbus erste Buga-Stadt im Osten. Wenig später hauchte uns der FC Energie eine Erstliga-Tauglichkeit ein, die weit über Sportliche hinausging – es prägte das Selbstverständnis dieser Stadt wie kaum anderes. Das ist mit Fördergeld kaum zu bezahlen. Überhaupt der Sport in unserer Stadt. Er verbindet erfolgreich Internationalität mit ostdeutschem Knowhow und Ost-Identität.

Darf ich deshalb heute sagen, dass ich stolz bin, in Deutschland zu leben, ja, Deutscher zu sein? Was blüht uns in dieser Landschaft? Und es ist ja nicht so, dass nicht mehr passiert wäre als der Übergang von der Kolchose zur Kohl-Rose. Erkennen wir die Kohl’sche Prophezeiung heute? Sind Investitionen von mehr als 5 Milliarden Euro allein in Cottbus/Chóśebuz endlich das Einlösen des Versprechens? Unsere Nachbarn, beispielsweise in Polen, hatten es ungleich schwerer nach dem Zusammenbruch des Sozialismus. Wir sollten stolz sein auf das, was schon geworden ist. Stolz auf unsere Lausitz und auf unsere schöne und sich entwickelnde Stadt. Stolz auf den Bergbau, auf Quark und Leinöl, auf Energieexpertise, auf Bahntradition inmitten der ICE-Moderne, auf einen Cottbuser Ostsee und vieles mehr – sowie last but not least auf die Menschen, die hier anpacken.

Und wir dürfen zuversichtlich auf das schauen, was kommt, kommen kann. Hat ja keiner gesagt, dass es leicht wird. Solche Perspektiven wie unsere derzeitigen kommen so nicht wieder. Wir sollten wie die Mutigen im Herbst 1989 an uns glauben und die Chancen beim Schopfe packen. Wir brauchen findige Köpfe und fleißige Hände dazu. Und deshalb möchte ich denen sagen, die wegziehen mussten oder sich nicht heimisch aufgehoben fühlten: Leute, kommt nach Hause! Eure alte Heimat wird wieder was, wenn ihr mitmacht.

Zum Abschluss, meine sehr verehrten Damen und Herren, möchte ich Sie im Sinne der Gemeinsamkeit der Generationen zu einer Art neuen Nationalhymne verführen. Vielleicht weniger zum Singen, als vielmehr zu weitere Nachdenken. Deshalb mute ich Ihnen auch nicht meinen Gesang zu. Die erste Strophe dieser Hymne beginnt mit „Auferstanden aus Ruinen…“, die zweite dann mit „Einigkeit und Recht und Freiheit…“. Die dritte Strophe dann würde aus Brechts Kinderhymne stammen: „Anmut sparet nicht noch Mühe/Leidenschaft nicht noch Verstand/dass ein gutes Deutschland blühe/Wie ein andres gutes Land…“

Damit lade ich Sie ein, den heutigen Tag in würdigem Nachdenken und mit einer guten Portion Zuversicht zu genießen und hoffe, dass wir uns heute Abend im Stadthaus wiedertreffen zu „Deutschland singt und klingt“. Wir haben es uns gemeinsam bis hierher verdient.

Ich danke Ihnen.

Grußwort und Chorsingen für Jedermann (Mitschnitt)

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